Teil 1 von Projekt 3 befasst sich mit der geografischen und chronologischen Analyse der Übersetzungen von Werther. Graph 5 zeigt, dass sich der Roman und seine Übersetzungen zuerst innerhalb Europas und später auch global verbreiteten. Während der Text im 18. Jahrhundert fast ausschliesslich in nord- und mitteleuropäischen Ländern wie Holland, Frankreich, England und natürlich Deutschland publiziert wurde, gab es im 19. Jahrhundert mehrere Veröffentlichungen in Spanien, Ungarn und vor allem Italien. Im 20. Jahrhundert gab es eine explosionsartige globale Verbreitung von Werther. Der Roman wurde sehr oft in den Vereinigten Staaten, aber auch in asiatischen und südamerikanischen Ländern veröffentlicht. Kurios ist in dieser Hinsicht das Auftreten von südlichen Ländern wie Ägypten und Spanien, welche sich traditionell eigentlich weniger für westliche Literatur interessierten. Im 21. Jahrhundert schliesslich wird Spanien mit den USA zum Hauptverleger des Textes. Interessanterweise gab es in diesem Jahrhundert weniger Neuveröffentlichungen von Werther als im Jahrhundert davor, was einen Rückgang in der Popularität des Buches andeuten könnte. Jedoch sind die „Ursprungsländer“ von Goethes Roman, d.h. die Gruppe von nord- und mitteleuropäischen Ländern, in denen Werther zuerst veröffentlicht wurde, in jedem Jahrhundert vertreten. Dies bedeutet, dass die Verbreitung des Textes in andere Regionen die Popularität in den Ursprungsländern nicht unbedingt ausschliesst. Graph 6 zeigt letztlich die Zusammenhänge der verschiedenen Übersetzungen. Die grössten Knotenpunkte in der Illustration sind Englisch, Spanisch, Französisch, Holländisch und Italienisch. Interessant ist hier, dass Deutsch keinen grossen Knotenpunkt darstellt: Im Zentrum der Veranschaulichung liegt nicht etwa Deutsch, sondern Englisch. Dies bedeutet, dass die meisten Texte in der Analyse nicht Übersetzungen des Originals, sondern Übersetzungen einer englischen Übersetzung sind.
Teil 2
Teil 2 des Projekts untersucht die Übersetzungen von Projekt 2 anhand von Schleiermachers Übersetzungstheorie. Schleiermacher argumentiert, dass es zwei „reine“ Methoden der Übersetzung gibt. Der Übersetzer kann entweder den Autor in Ruhe lassen und den Leser zum Autor bringen (Verfremdung), oder er kann den Leser in Ruhe lassen und den Autor zum Leser bringen (Einbürgerung). Alle anderen Methoden sind laut Schleiermacher eine Mischung und unakzeptabel, da sie Miskommunikationen provozieren. Obwohl alle drei Übersetzungen von Projekt 2 Mischungen dieser Methoden verwenden, ist Werther aus Novels and Tales von R.D. Boylan wohl der Methode der reinen Verfremdung am nächsten, da der Übersetzer mehrmals die Genauigkeit der Übersetzung als seine vorderste Priorität betont. Somit bringt Boylan den Leser zum Autor. George Ticknor’s The Sorrows of Young Werter von George Ticknor hingegen stellt die gegenüberliegende Seite des Spektrums dar. Ticknor konzentriert sich weniger auf die Genauigkeit des Textes, als auf die exakte Übermittlung der Emotionen in Goethes Roman. Zu diesem Zweck entfernt oder fügt er des öfteren Wörter oder ganze Sätze hinzu, und bürgert somit den Text ein. The Sorrows of Werter: A German Story von Richard Graves und Daniel Malthus letztlich scheint eine Mischung aus beiden Methoden zu sein: Der Text weist weder die Genauigkeit von Boylans, noch die Freiheiten von Ticknors Übersetzungsstil auf. Somit zeigen die drei Übersetzungen, dass Schleiermachers Übersetzungstheorie zwar theoretisch Sinn macht, aber in der Realität unmöglich anzuwenden ist. Übersetzer werden immer eine bestimmte Mischung der Methoden verwenden, um zu einem akzeptablen Ergebnis zu kommen.
Teil 3
Philipp Stölzls Film „Goethe!“ ist ein weiteres Beispiel für Schleiermachers Einbürgerungsmethode. Die Handlung im Film ist ebenso wie die Handlung in Werther ungefähr an Goethes Leben angelehnt. Jedoch wurden sehr viele grosse und kleine Details abgeändert, um Goethe auch für die jungen Generationen attraktiv zu machen. Z.B. hatte Goethe in der Realität keinen Sex mit Charlotte Buff. Dies wurde zum Film hinzugefügt, wahrscheinlich damit sich auch ein modernes Publikum, welches Sex ausserhalb der Ehe gewohnt ist, mit Goethes Liebesleben identifizieren kann. Des weiteren praktizierte Goethe im Sommer von 1772 nicht wie im Film Jura, sondern schrieb Rezensionen über antike griechische Werke und kannte seinen besten Freund aus dem Film, Carl Wilhelm Jerusalem, in der Realität nur flüchtig. Die Produzenten des Films entschieden sich für diese Abänderungen, da sie die Handlung verdichten und das Thema somit zugänglicher für ein Publikum ohne jegliches Vorwissen über Goethe machen. Des weiteren arbeiteten die Produzenten Teile der Handlung von Werther in die Handlung des Films ein. Z.B. heisst Charlottes Mann Johann Christian Kestner im Film Albert – ein klarer Verweis auf Albert im Roman – und ist auch noch nicht mit Charlotte verheiratet. Auch wird Carl Wilhelm Jerusalems Name zu Wilhelm Jerusalem verkürzt, was ein Verweis auf Werthers gleichnamigen Brieffreund ist. In einer frühen Szene redet Charlotte Goethe mit dem hochachtungsvollen Ausdruck „mein Werter“ (von „Wert“) an. Dem Film zufolge inspiriert diese kleine Geste den Namen der Hauptfigur in Goethes Roman. Der grösste Unterschied zwischen Film und Realität in Bezug auf Werther ist jedoch, dass Goethe im Film den Roman noch im Gefängnis als eine direkte Reaktion auf Charlottes Verlobung schreibt. In Wirklichkeit schrieb Goethe seinen Briefroman über eine Zeitspanne von 18 Monaten, was wohl bedeutet, dass der Text weniger impulsiv und mehr überlegt entstand als im Film dargestellt. Stölzls Werk trägt trotz all diesen Unterschieden wesentlich dazu bei, dass Werther auch heute noch zur Weltliteratur zählt. Wie in Teil 1 des Projekts dargestellt wurde, scheint die Popularität von Goethes Briefroman im 21. Jahrhundert zu schwinden. Schleiermacher erklärt in seiner Übersetzungstheorie, dass Texte nicht nur für verschiedene geografische Regionen, sondern auch für verschiedene Zeitepochen übersetzt und kulturell zugänglich gemacht werden müssen. Der Film sorgt dafür, dass Goethe auch in den kommenden Jahrzehnten beliebt bei den jüngeren Generationen (welche seine Werke vielleicht nicht unbedingt in der Schule gelesen haben) bleibt und diese Gruppen vielleicht sogar dazu inspiriert, seine Texte zu lesen.
Teil 4
Der letzte Teil dieses Projekts ist eine Gedichtanalyse von Goethes Gingo biloba in Bezug auf das Konzept der Weltliteratur. Obwohl sich die meisten Experten einig sind, dass das Gedicht Goethes Freundin Marianne von Willemer gewidmet war, kann man den Text auch als eine Repräsentation der Weltliteratur sehen. Der Ginkgobaum wurde aus dem Osten (aus China) nach Deutschland verpflanzt und ist somit ein Symbol für den Import von literarischen Werken aus anderen Regionen, welche durch Übersetzung nicht nur versetzt, sondern in eine andere Kultur integriert werden. Genau wie der Baum durch die Verpflanzung nicht stirbt, werden die fremden Texte durch Einbürgerung in einer neuen Umgebung am Leben gehalten. Die Vermischung der Reimfolge (ABAB) in allen Strophen und der Reimform (♀♂ ♀♂) in der letzten Strophe stehen hier symbolisch für die Vermischung von Kulturen. Die zweite Strophe befasst sich mit den einzigartigen Blättern des Baums, über welche Goethe die Frage stellt, ob ein Blatt aus einem gespaltenen oder zwei verschmolzenen Blättern besteht. Weil sie das Endprodukt des Baums sind, kann man die Blätter als Teile einer fremden Literatur und ihre jeweiligen Übersetzungen sehen. Somit kann man davon ausgehen, dass Goethe fragt, ob ein Text und seine Übersetzung ein und dasselbe oder eigenständig aber verbunden sind. Der letzte Vers des Gedichts verstärkt diese Interpretation des Blattes und beantwortet gleichzeitig auch die obige Frage, da Goethe im Hinblick auf seine Imitation des persischen Schriftstellers Hafiz angibt, selbst „eins und doppelt“ zu sein. Wegen seiner Nachahmung von Hafiz könnte man sagen, dass Goethe im Grunde Hafizs Texte in die deutsche Kultur „übersetzt“. Wenn man die Metapher des Blattes als Verbindung von Originaltext und Übersetzung auf Autor und Übersetzer erweitert, wird klar, dass Goethe und Hafiz symbolisch dieselbe Person, doch ebenso eigenständig und verbunden durch ihre Werke sind.