Description
Zu Goethes Zeit aber auch in jüngerer Vergangenheit wurde Die Leiden des Jungen Werther vor allem in die prominenten europäischen Sprachen (Englisch, Französisch und Italienisch) übersetzt. Für diesen Aufsatz habe ich mich für drei englische Übersetzungen des Briefromans aus verschiedenen Zeitepochen und Regionen entschieden, welches mir hoffentlich einen Einblick in die Einflüsse der verschiedenen Kulturen erlaubt.
Eine der ersten Übersetzungen des Romans ins Englische, The Sorrows of Werter: A German Story von 1779, wird wechselweise Richard Graves oder Daniel Malthus zugeschrieben. Im Vorwort wird die Faszination des Übersetzers für Goethe’s Werk deutlich. Es wird erwähnt, dass er damit begann, einige Briefe von einer französischen Übersetzung ins Englische zu übersetzen. Nach und nach vervollständigte er das gesamte Buch. Der Übersetzer verteidigt Goethe’s Werk vor der Kritik, Goethe hiesse den Suizid gut, indem er die Trennung von Autor und Charakter betont. Jedoch gibt er zu, dass zuerst der französische und dann der englische Übersetzer einige Stellen des Buches wegen ihres religiösen, fast schon blasphemischen Untertons ausgelassen hatten. Dies ist möglicherweise ein Indiz dafür, dass Frankreich und England zu dieser Zeit immer noch sehr religiös war und die Buchverläge keine Gotteslästerung tolerierten. Das berühmte „Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?“ wurde jedoch interessanterweise im Buch behalten. Der Übersetzer hat den Roman weiter an die englische Kultur angepasst, indem er Lotte (welches die Kurzform von Charlotte ist) bei vollem Namen nannte und „Werther“ zu „Werter“ änderte, wodurch die deutsche Aussprache auch im Englischen bewahrt wird. Wilhelms Name wurde ganz und gar durch „mein guter Freund“ ersetzt.
Die zweite Übersetzung von Werther ist Teil des Buches Novels and Tales aus dem Jahr 1864 und wurde von R.D. Boylan durchgeführt. Das Vorwort behauptet, dass dies die erste Übersetzung direkt aus dem Deutschen war, und obwohl dies später wiederlegt wurde, konnte man zur Zeit der Herausgabe von Boylans Version fest von der Richtigkeit dieser Aussage ausgehen. Des Weiteren macht der Übersetzer deutlich, dass seine Motivation für diese Übersetzung von der minderwertigen Qualität der Graves/Malthus Übersetzung stammte, welche auch schon von anderen Quellen als kraftlos und entstellt bezeichnet worden war. So heisst es im Vorwort: „Der deutsche Werther ist eine ganz andere Person als sein englischer Namensvetter. Seine Leiden im Original sind in einem starken aber sarkastischen Ton festgehalten, von welchem die Graves/Malthus Übersetzung keine Überreste enthält, vermischt mit Spuren von schmerzhaften Überlegungen, flüchtige Blicke einer Philosophie so tiefgreifend wie bitter, welche Graves/Malthus gänzlich ausgelassen hat.“ Schliesslich bezieht das Vorwort noch ein Zitat von Thomas Carlyle mit ein, welches die genaue Übermittlung der Empfindungen des Autors als vorderste Priorität eines Übersetzers hervorhebt. All dies führt uns zu der Schlussfolgerung, dass diese Übersetzung von den dreien wohl die wenigsten Abweichungen vom Original enthält. Ein schlichtes Indiz hierfür findet sich in der Tatsache, dass Werthers Name nicht abgeändert wurde.
Die dritte Übersetzung ist George Ticknor’s The Sorrows of Young Werter (1952) von George Ticknor. Diese Übersetzung stellt einen Sonderfall dar; zum Einen weil sie schon 1814 geschrieben aber erst 1952 wiederentdeckt und veröffentlicht wurde; zum Anderen weil sie – im Gegensatz zu den anderen zwei Übersetzungen – von einem Amerikaner ausgeführt wurde. Im Anhang des Textes hat sich der Herausgeber erlaubt, die Qualität von Ticknors Übersetzung zu analysieren. Wie auch schon Boylan missfällt die Graves/Malthus Übersetzung dem Herausgeber, aber auch Boylans Übersetzung scheint in der Schönheit und Anmut von Ticknors Übersetzung zu erblassen. Wie bereits erwähnt konzentrierte sich Boylan auf die genaue Übereinstimmung der Übersetzung mit dem Original, welches in einem stockenden und unharmonischen Text resultierte. Ticknor hingegen konzentrierte sich weniger auf die Genauigkeit des Textes, als auf die exakte Übermittlung der Emotionen in Goethes Roman. Zu diesem Zweck entfernte oder fügte er des öfteren Wörter oder ganze Sätze hinzu. So kommt Ticknors Werk meiner Meinung nach Goethes Werk in Poesie am nähesten. Aber auch diese Übersetzung ist nicht ohne Makel: Als gläubiger Christ änderte Ticknor viele religiöse Stellen des Romans, z.B. durch die Entfernung der Wörter „Himmel“, „Teufel“ und „Paradies“. Des Weiteren schwächte er einige Stellen von Werthers Leidenschaft ab, die ihm wohl exzessiv und unnötig vorkamen. Werthers Namensänderung zu „Werter“, welche auch in dieser Übersetzung auftritt, ist somit symbolisch für die künstlerischen Freiheiten, die sich Ticknor erlaubte. Darüber hinaus könnte diese Übersetzung auch ein Hinweis auf die Kultur der Vereinigten Staaten sein, welche zu dieser Zeit wohl etwas religiöser als die französische oder englische war.
Dieses Projekt hat mir gezeigt, dass es wohl keine perfekte Übersetzung eines Textes gibt. Wo manche Übersetzer sich zu stark auf die Genauigkeit konzentrieren, und dadurch die Emotionen des Originals verzerren oder gar weglassen, sind andere Übersetzer zu freizügig und verlieren dadurch an Präzision. Ausserdem tragen die verschiedenen Kulturen zu Abänderungen bei, da sie bestimmen, was unakzeptabel für ein literarisches Werk ist und zensiert werden muss. Vor diesem Projekt dachte ich, dass Weltliteratur ein sehr einfach zu verstehendes Konzept ist, da es schlicht jegliche Literatur bezeichnet, die von einer Kultur in eine andere übersetzt wird. Ein grosser Faktor in der Weltliteratur ist jedoch, dass ein Austausch von Gedanken und Ideen durch die Literatur stattfindet. Die wichtige Frage, die sich also nach diesem Projekt stellt, ist, ob ein Text immer noch in die Kategorie „Weltliteratur“ fallen sollte, wenn der Übersetzer ihn abgeändert hat. Meine Meinung dazu ist, dass der Sinn von Weltliteratur – und zwar der Gedankenaustausch zwischen Nationen – trotzdem noch weitgehend erhalten bleiben kann, solange das Leitmotiv eines Textes nicht durch die Übersetzung verloren geht. D.h., solange Werther in den Übersetzungen immer noch durch seine unerwiderte Liebe zu Lotte leidet und stirbt (und solange sein Leiden angemessen dargestellt wird), kann man den Text und seine Übersetzungen gewiss zur Weltliteratur zählen.